»100 Notizen – 100 Gedanken«. Die ersten Beiträge zur Publikationsserie der dOCUMENTA (13) stehen fest
Im Vorfeld der 2012 stattfindenden Ausstellung geben die dOCUMENTA (13) und der Hatje Cantz Verlag eine Serie von Notizbüchern unter dem Titel 100 Notizen – 100 Gedanken heraus, die sich aus einer Vielfalt an Formaten – von Faksimiles handschriftlicher Notizen über Essays und Gespräche bis hin zu Künstlerbüchern – zusammensetzt. Die Serie ist in Auftrag gegeben von Carolyn Christov-Bakargiev, Künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), gemeinsam mit Chus Martínez, Agentin, Mitglied der Kerngruppe sowie Leiterin der Abteilung, und wird editorisch betreut von Bettina Funcke, Leiterin der Publikationsabteilung.

Eine Notiz ist eine Spur, ein Wort, eine Zeichnung, die unversehens zum Teil des Denkens wird und sich in eine Idee verwandelt. Diesem Pfad folgt die Publikationsreihe, die Gedanken in einem prologartigen Zustand, vor ihrem Erscheinen in der Öffentlichkeit zeigt. Eher ein Ort der Intimität als der Kritik, veröffentlicht die dOCUMENTA (13) das Unveröffentlichbare, die Stimme – und der Leser ist dabei ihr Alibi und ihr Verbündeter. Das Aufzeichnen von Notizen hat mit Zeugenschaft, Zeichnen, Schreiben und diagrammatischem Denken zu tun. Es ist spekulativ, hält einen vorläufigen Moment fest, einen Übergang, und dient als Gedächtnisstütze.
Mit Beiträgen von Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen – Kunst, Naturwissenschaft, Philosophie und Psychologie, Anthropologie, Ökonomie und Politikwissenschaft, Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Dichtung – bildet die Serie einen Ort innerhalb der dOCUMENTA (13), an dem untersucht wird, wie das Denken als Quelle menschlicher Vorstellungen von der Welt fungiert. Der ausgesprochene Sammlungscharakter des Projekts eröffnet einen flexiblen geistigen Möglichkeitsraum. Anders als feststehende Aussagen sind Gedanken immer Variationen: Dies ist der Hintergrund, vor dem die Notizbücher entstehen.
Die Notebooks, gestaltet von Leftloft, erscheinen ab März 2011 in drei verschiedenen Formaten und mit einem Umfang von 16 bis 48 Seiten in Englisch und Deutsch. Weitere Informationen unter www.hatje-cantz.de oder www.documenta.de
001: Michael Taussig, Feldforschungsnotizbücher
Was macht die Faszination von Notizbüchern aus? Dieser Frage geht der Anthropologe Michael Taussig, für dessen Feldforschungen Notizbücher ein unverzichtbares Instrument darstellen, in seinem Essay auf den Grund. Im Zentrum seiner Untersuchung steht Walter Benjamin, der obsessiv seine Notizbücher füllte und nicht nur ihrem Zweck, sondern auch ihrer Materialität verfallen war. Anhand weiterer bekannter Notizenschreiber, von Roland Barthes über Le Corbusier bis zu Joan Didion, kristallisiert Taussig heraus, was ein Notizbuch wirklich ist. Weit mehr als ein bloßes »Ding«, entwickelt es ein veritables Eigenleben, das sich gerade aus dem speist, was nicht niedergeschrieben wurde, und schließlich ergreift es von seinem Besitzer Besitz: Das Notizbuch ist ein magisches Objekt, ein Fetisch. – Der Anthropologe Michael Taussig ist Professor an der Columbia University, New York.
002: Ian Wallace, Die erste documenta 1955
1955 fand die erste documenta in Kassel statt. Zunächst als einmalig konzipiert, ist sie zu einer heute alle fünf Jahre wiederkehrenden, grundlegenden Ausstellung und Reflexion zeitgenössischer Kunst geworden. In seinem Essay, 1987 an der University of British Columbia, Vancouver, als Vorlesung gehalten, beleuchtet Ian Wallace die erste documenta, die nach dem Zweiten Weltkrieg ebenjenen Künstlern ein Forum bieten wollte, die im Nationalsozialismus als »entartet« verfemt worden waren. Die erste documenta ist gleichermaßen Spiegel wie Protagonist des kulturellen und politischen Klimas der Nachkriegszeit und hat unter der Führung von Arnold Bode, mit Unterstützung Werner Haftmanns, wesentlich zum Siegeszug der Abstraktion beigetragen, der West-Deutschland den Anschluss an die europäische Moderne verschaffte. – Ian Wallace (geb. 1943) ist Künstler. Er lebt in Vancouver und hat an der University of British Columbia sowie der Emily Carr University of Art and Design gelehrt.
003: Carolyn Christov-Bakargiev, Brief an einen Freund
In ihrem »Brief an einen Freund« gibt die künstlerische Leiterin der dOCUMENTA (13), Carolyn Christov-Bakargiev, einen Einblick in ihren Arbeitsprozess und umreißt dabei einige Schlüsselfragen der 2012 stattfindenden Ausstellung. In unterschiedlichen Stimmen – in Form von Geschichten, theoretischer Spekulation, Reisetagebuch, Pressemitteilung oder kritischer Reflexion – beschreibt sie die dOCUMENTA (13) als etwas, das über eine Ausstellung hinausgeht: Für sie ist es ein Geisteszustand. Es handelt sich sowohl um eine Konstellation aus künstlerischen Handlungen und Gesten, die bereits jetzt stattfinden, als auch um eine Ausstellung, die am 6. Juni 2010 eröffnen und für 100 Tage laufen wird. Was kann diese Ausstellung heute sein, angesichts der Heterogenität des von ihr angesprochenen Publikums und der historischen Entwicklung von Gruppenausstellungen zu »einem nichtkommerziellen Ort der intensiven Versammlung«? Mit der Öffnung der Grenzen zwischen den Disziplinen und Wissensfeldern und der Betonung von prozessualen Fragen entsteht die dOCUMENTA (13) aus einem Denken in miteinander verschränkten Ontologien anstatt aus der Verfolgung eines definierten kuratorischen Konzepts.
004: Emily Jacir & Susan Buck-Morss
Dieses Notizbuch kombiniert Fotografien der palästinensischen Künstlerin Emily Jacir mit einem Text, den die an der City University of New York lehrende politische Philosophin Susan Buck-Morss in Reaktion auf diese Bilder und auf Gespräche mit der Künstlerin verfasst hat. Jacirs Fotografien zeigen das ehemalige Benediktinerkloster Breitenau, nahe Kassel, das während der NS-Zeit als Lager genutzt wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg als Besserungsanstalt für schwererziehbare Mädchen diente. Diese Fotos, durch weitere Aufnahmen aus Kassel ergänzt, werden von handschriftlichen Tagebuchnotizen der Künstlerin begleitet, die Fragen bezüglich der Geschichte der Orte aufwerfen. Buck-Morss beleuchtet in ihrem Text, ausgehend von Walter Benjamins Auslegungen von Paul Klees Angelus Novus, die Konstituierung von Wahrheit und des kollektiven Gedächtnisses sowie die folgenreiche Beziehung zwischen Wissen und Macht, die zur Selektion von Archiviertem und Erinnerung führt.
005: György Lukács: Notizen zu Georg Simmels Vorlesungen, 1906/07, Einführung: Lívia Páldi
Eine Faksimile-Reproduktion eines Studenten-Notizbuchs des einflussreichen Literatursoziologen und Marxisten György Lukács (1885–1971, Budapest), die Aufzeichnungen zu Georg Simmels Berliner Vorlesungen von 1906/07 enthalten. Mit einer Einführung von Lívia Páldi, Chefkuratorin am Mucsarnok/Kunsthalle Budapest.
006: Etel Adnan
Die libanesisch-amerikanische Dichterin, Essayistin und Künstlerin Etel Adnan (geb. 1925 in Beirut) schreibt über die Liebe und ihren Preis, den wir heute nicht mehr bereit sind zu zahlen. Sie hat zahlreiche Bücher in arabischer, englischer und französischer Sprache veröffentlicht. Kürzlich in Englisch erschienen sind Master of the Eclipse (2009); In the Heart of the Heart of Another Country (2005); Seasons (2008); und In/somnia (2002).
007: Erkki Kurenniemi, Einführung: Lars Bang Larsen
Ein Abdruck von Seiten eines Tagebuchs aus dem Oktober 1980 von Erkki Kurenniemi (geb. 1941), einem Nuklearphysiker, der zum Künstler und Protagonisten der elektronischen Musik in Finnland wurde und dessen von radikalen Vorstellungen geprägtes Werk das Vorurteil widerlegt, dass Technologie mit kühlem Denken und Sensibilitätsverlust gleichzusetzen ist. Über Jahrzehnte hat Kurenniemi sein Archiv des Selbst angelegt, das Fotografien, Disketten und Festplatten, Hunderte von Video- und Audiobändern sowie Dutzende von Notizbüchern wie das hier abgedruckte umfasst. Mit einer Einführung von Lars Bang Larsen.
008: Lawrence Weiner: IF IN FACT THERE IS A CONTEXT
Der Künstler Lawrence Weiner hat für diese Serie ein Künstlerbuch gestaltet, in demselben Format (A6) und mit derselben Seitenzahl (24) wie bei seinem ersten Beitrag zur documenta 5, 1972, kuratiert von Harald Szeemann. Die teils handschriftlichen Anleitungen, Aussagen, Definitionen, Gedichte und Piktogramme eröffnen einen Einblick in seine Arbeitsweise und fassen seine Ideen rund um die dOCUMENTA (13) so eloquent wie poetisch in Sprache. Weiner ist seit ihren Anfängen eine zentrale Gestalt der Konzeptkunst und arbeitet in verschiedenen Medien, darunter Video, Bücher, Performance und Installation.
Beiträge in Vorbereitung von Mario Bellatin - Franco Berardi aka Bifo - Andrea Bruno - Cornelius Castoriadis / Einführung: Nikos Papastergiadis - Peter L. Galison & William Kentridge - Ashraf und Mariam Ghani - Kenneth Goldsmith - Peter György - Daniel Heller-Roazen - Brian Holmes - Alejandro Jodorowsky / Einführung: Chus Martínez - Pamela M. Lee - Christoph Menke - Romaine Moreton - Hans Ulrich Obrist - Paul Ryan - G. M. Tamás - Jalal Toufic.